Sündenfall
Seit annähernd 4 Milliarden Jahren entwickelt sich das Leben auf der Erde. Diese Entwicklung wird als Evolution bezeichnet. Seit ungefähr 30.000 bis 60.000 Jahren hat sich im Rahmen der Evolution der rationale Verstand entwickelt. Die Funktion des Verstandes basiert auf einem rationalen Modell der Realität. Dieses Modell entsteht durch Teilen und Verbinden:
- in der Wahrnehmung Elemente unterscheiden (Teilen)
- zwischen den Elementen Zusammenhänge herstellen (Verbinden)
Mit Hilfe seines Modells der Realität kann der Verstand Gesetzmäßigkeiten erfassen, deren Anwendung es ihm ermöglicht, gesetzmäßiges Verhalten zu steuern.
Wie alle Entwicklungen hat auch die Entwicklung des Verstandes mal ganz klein angefangen mit einem ganz einfachen Modell, das die Realität nur stark vereinfacht und bruchstückhaft abbildete. Im Laufe der Zeit wurde dieses Modell immer größer und beschrieb die Realität immer umfassender und detaillierter. Das bedeutet aber im Umkehrschluss, dass zu jeder Zeit dieser Entwicklung Teile der Realität (noch) nicht vom Modell erfasst wurden. Das ist auch heute noch so. Allerdings bildet sich der Verstand ein, sehr viel mehr über die Realität zu wissen, als er tatsächlich weiß, weil er zur Bildung von Illusionen neigt.
Der Verstand bildet sich ein, in Form der Evolutionstheorie über die Evolution Bescheid zu wissen. Laut Evolutionstheorie basiert die Entwicklung des Lebens darauf, dass zufällige genetische Veränderungen (Mutationen) zu immer mehr Variationen führen, von denen durch natürliche Auslese nur die perfekt an ihre Umwelt angepassten Lebensformen überleben. Weil der Verstand glaubt, die Evolution sei zufällig passiert, fühlt er sich mit seinen eigenen Fähigkeiten zur Entwicklung der Evolution weit überlegen. Das wird aus rationaler Sicht auch dadurch bestätigt, dass die Evolution ja mit 4 Milliarden Jahren geradezu ewig gedauert hat, während der Verstand in nur 4 Hundert Jahren die ganze Technologie hervorgebracht hat. Das sind 9 Nullen (4.000.000.000) gegen nur 2 Nullen (400). Der Verstand glaubt, seine Entwicklung sei viel schneller, weil sie im Gegensatz zur Evolution gezielt abläuft.
Der eigentliche Grund dafür, dass Technologieentwicklung scheinbar viel schneller abläuft als die Evolution ist, dass Technologieentwicklung auf bereits existierenden Gesetzmäßigkeiten aufbaut. Technologie erschafft neues gesetzmäßiges Verhalten durch Zusammensetzen "fertiger Gesetzbausteine" in Form der Naturgesetze. Die Evolution hingegen erschafft neue Gesetzmäßigkeiten "aus dem Nichts" bzw. aus nicht-gesetzmäßigem Verhalten.
Der Verstand erkennt diesen Unterschied nicht. Für ihn ist die Evolution ein Zufallsprodukt, während er selbst Entwicklung gezielt angeht. Es scheint nicht nötig zu sein, die Entstehung des Verhaltens der Lebewesen ohne Verstand zu verstehen, weil zufällige Entwicklung kann jeder. Dafür braucht es gar nichts, das irgendeine Bedeutung hätte.
Basierend auf diesem Irrglauben hat der Verstand die Verhaltenskontrolle in der Psyche immer mehr an sich gerissen. Damit das funktioniert, musste er die Teile der Psyche in ihrer Funktion unterdrücken, die zuvor für die Verhaltenssteuerung zuständig waren.
In der menschlichen Psyche tobt seit der Entstehung des Verstandes ein ständiger Konflikt zwischen rationalen Verhaltensentscheidungen und den ursprünglichen Mechanismen der Verhaltensentstehung. Dabei ist es für den Verstand vollkommen selbstverständlich, dass rationales Verhalten allem anderen weit überlegen ist. Er nimmt nicht-rationale Verhaltensimpulse nur als lästige Störfaktoren wahr. Er selbst hält sich für "die Vernunft" und alles andere erscheint ihm dementsprechend unvernünftig.
Die Trennung des Verhaltens von seiner ursprünglichen Quelle wird im religiösen Kontext als Sündenfall bezeichnet, weil der Verstand dadurch unbewusst zahlreiche Probleme selbst erzeugt, deren Entstehen ihm zufällig erscheint und die er verbissen bekämpft, ohne ihre eigentliche Ursache zu erkennen.
Dieses Kapitel beschreibt grundlegende Verhaltensmuster des rationalen Verstandes, die zur Entstehung negativer Wirkungen führen.