Wissenschaft und Illusionen

Als der Verstand die Naturgesetze fand und mit großem Erfolg zum Nutzen des Menschen einsetzen konnte, zog er die Schlussfolgerung, dass sich auf diese Weise alle Geheimnisse des Universums finden und alle Probleme lösen lassen. Nachlesen lässt sich das zum Beispiel in Galileo Galileis Schrift "Saggiatore":

„Die Philosophie steht in diesem großen Buch geschrieben, dem Universum, das unserem Blick ständig offen liegt. Aber das Buch ist nicht zu verstehen, wenn man nicht zuvor die Sprache erlernt und sich mit den Buchstaben vertraut gemacht hat, in denen es geschrieben ist. Es ist in der Sprache der Mathematik geschrieben, und deren Buchstaben sind Kreise, Dreiecke und andere geometrische Figuren, ohne die es dem Menschen unmöglich ist, ein einziges Wort davon zu verstehen; ohne diese irrt man in einem dunklen Labyrinth herum.“ (Übersetzung aus Wikipedia-Artikel zu Galileo Galilei)

Auch wenn hier Galileo Galilei als Quelle angeführt wird, handelt es sich tatsächlich um eine kollektive Schlussfolgerung, die für die meisten Wissenschaftler naheliegend war. Schließlich hatte man mit den Naturgesetzen das elementare Verhalten der Materie beschrieben und der Gedanke ist durchaus plausibel, dass sich aus dem elementaren Verhalten auch alles andere ergibt. (Dass es dann doch nicht so ist, kommt durch Komplexität - siehe vorheriges Kapitel.)

Hinzu kommt die historische Situation, in der die Naturgesetze gefunden wurden: Die Kirche hatte die Deutungshoheit über wahr und falsch und sie agierte auf der Grundlage von Dogmen und Doktrinen. Es handelt sich dabei um Glaubensannahmen, die keines Beweises bedurften. Als die Naturgesetze entdeckt wurden, ergab sich aber ein viel besseres Kriterium zum Feststellen der Wahrheit: Das elementare Verhalten der Materie ließ sich durch Mathematik vorausberechnen und dann in der Realität nachmessen: Es ließ sich beweisen und ein Beweis war ganz offensichtlich ein viel überzeugenderes Wahrheitskriterium - so überzeugend, dass er die Dogmen und Doktrinen der Kirche deutlich in den Schatten stellte. Vermutlich hatten es die Menschen zu diesem Zeitpunkt satt, sich von der Kirche vorschreiben zu lassen, was sie für wahr halten sollten und so wurde kurzerhand der wissenschaftliche Beweis zum neuen universellen Wahrheitskriterium erhoben. Der rationale Verstand verabsolutierte das, was mit den Naturgesetzen so gut funktioniert hatte und übertrug es auf die ganze Realität. Die Naturgesetze waren eine wirklich bahnbrechende Erkenntnis und so wurde das Verhaltensmuster, das zu dieser Erkenntnis geführt hatte, zum einzig legitimen und akzeptierten Erkenntnisprinzip erklärt, um scheinbar willkürliche Glaubensannahmen, wie sie die Kirche zu treffen schien, ein für alle Mal zu überwinden.

So ist es häufig bei der Entstehung von Illusionen: Zum Zeitpunkt ihrer Entstehung sind es eigentlich noch keine Illusionen, sondern einfach nur naheliegende Annahmen, die sehr verlockend sind, weil sie scheinbar alles viel einfacher und besser machen würden, wenn sie wahr wären. Illusionen werden daraus erst dann, wenn in der weiteren Entwicklung Anzeichen der Realität ignoriert werden, dass die Annahme vielleicht doch nicht richtig war, um sich den Irrtum nicht eingestehen zu müssen.

Eine Illusion spiegelt die Erfüllung eines wichtigen Bedürfnisses vor, ohne es tatsächlich zu sein. Sie vermeidet die Konfrontation mit der unangenehmen Realität, ein Problem, von dem man dachte, es sei bereits gelöst, doch nicht gelöst zu haben.

Die Annahme, dass sich alle Geheimnisse des Universums auf die gleiche Weise finden und in ihrem Wahrheitsgehalt überprüfen lassen würden wie die Naturgesetze, hatte für den rationalen Verstand einen gigantischen Nutzen: Sie bedeutete, dass das komplette Universum rein rational erkennbar und kontrollierbar wäre und alle Probleme rein rational lösbar sind.

Allerdings handelt es sich bei den Naturgesetzen um einen sehr besonderen Spezialfall, der absolut nicht auf die ganze Realität übertragen werden kann:

  • Naturgesetze sind die einzigen Gesetzmäßigkeiten, die sich im Laufe ihrer Anwendung nie verändern.
  • Naturgesetze sind die einzigen Gesetzmäßigkeiten, bei welchen der nicht-gesetzmäßige Verhaltensanteil so klein ist, dass er für die meisten Anwendungen vernachlässigt werden kann.
  • Deshalb sind die Naturgesetze auch die einzigen Gesetzmäßigkeiten, welche dem Verstand eine (nahezu) vollständige Verhaltenskontrolle ermöglichen.
  • Dem entspricht, dass die Naturgesetze auch die einzigen Gesetzmäßigkeiten sind, bei denen alle Bedingungen, welche das Verhalten bestimmen, über die Sinne wahrgenommen werden können (denn ein scheinbar zufälliger Verhaltensanteil bedeutet, dass eben nicht alle verhaltensbestimmenden Bedingungen wahrgenommen werden).
  • Die Formeln der Mathematik beschreiben das elementare Verhalten der Materie (nahezu) vollständig und exakt.

Insbesondere der letzte Punkt hat im Kontext der Wissenschaft zu der gefährlichen und irreführenden Illusion geführt, Rationalität könne exakt sein und eine Art "absoluten Wahrheitsgehalt" besitzen. Die Naturgesetze sind aber eine sehr spezifische Ausnahme. Rationalität kann sich (von den Formeln der Naturgesetze abgesehen) der Realität immer nur annähern. Sie beschreibt Realität weder exakt noch vollständig.

Indem der Verstand das für die Naturgesetze perfekt funktionierende Erkenntnisprinzip zum einzigen legitimen Erkenntnisprinzip verabsolutierte, traf er eine Reihe von Grundannahmen über die Realität als Ganzes, die zu den Grundpfeilern seiner Weltsicht wurden. Er begann sein gesamtes rationales Modell der Realität auf ihnen aufzubauen. Das kann man sich so ähnlich vorstellen wie in der Mathematik: Auch die Mathematik als Ganzes geht aus einigen wenigen Grundannahmen hervor, die dort als Axiome bezeichnet werden. Die Axiome selbst müssen nicht bewiesen werden, dafür aber alles andere, das aus den Axiomen durch Schlussfolgerungen hervorgeht. Andere Axiome führen zu einer anderen Mathematik.

Eigentlich ist die Existenz von unbewiesenen Grundannahmen innerhalb einer Weltsicht kein Problem, solange sie bewusst getroffen und immer wieder daraufhin überprüft werden, ob sie zur wahrgenommenen Realität noch widerspruchsfrei sind. Aber während die Axiome in der Mathematik einer voll bewussten Entscheidung entspringen, sind dem Verstand die Grundannahmen seiner Weltsicht nicht bewusst. Unbewiesene Grundannahmen würden im Widerspruch zum Image der Wissenschaft als einer unbestechlich objektiv bewiesenen Wahrheit stehen. Sie werden ins Unbewusste verschoben, um die Illusion aufrecht zu erhalten. Das funktioniert deshalb, weil der Verstand seine Grundannahmen als so selbstverständlich wahr ansieht, dass sie keiner bewussten Überprüfung bedürfen.

Das rationale Modell der Realität (die Weltsicht) ist ein komplexes Gebilde von Zusammenhängen, die durch Schlussfolgerungen miteinander verbunden sind. Eine der wichtigsten Aufgaben des Verstandes ist es, dieses Gebilde frei von Widersprüchen zu halten und dafür zu sorgen, dass alles zusammenpasst. Deshalb können nur solche Zusammenhänge Teil des rationalen Weltbild-Modells werden, die zu den Grundannahmen nicht im Widerspruch stehen. Alles, was seine Grundannahmen in Frage stellt, flößt dem Verstand Angst ein, weil es an seiner Illusion von Kontrolle rüttelt. Der Verstand stellt die Widerspruchsfreiheit des rationalen Modells über seine Übereinstimmung mit der Realität.

Das wissenschaftliche Weltbild basiert auf folgenden Grundannahmen (die alle miteinander zusammenhängen):

  • Wahr ist nur das, was wissenschaftlich bewiesen werden kann. Es braucht kein anderes Erkenntnisprinzip als die Wissenschaft und es gibt auch keins, das mit der Wissenschaft mithalten könnte.
  • Realität beschränkt sich auf die Materie (Sinneswahrnehmung). Die innerpsychische Wahrnehmung liefert keine für Erkenntnis relevante Informationen, die nicht auf Sinneswahrnehmung zurückgeführt werden könnten.
  • Alles Existierende geht aus der Materie und ihren Gesetzmäßigkeiten (den Naturgesetzen) hervor und baut auf ihnen auf.

Die letztgenannte Grundannahme zeigt sich in dem äußerst missverständlich und suggestiv gewählten Begriff des "Naturgesetzes": Naturgesetze beschreiben das elementare Verhalten der leblosen Materie. Der Begriff "Natur" wird aber vor allem mit "dem Leben" assoziiert. Die Bezeichnung "Naturgesetz" suggeriert, dass "das Leben" auf den Gesetzmäßigkeiten des elementaren Verhaltens der leblosen Materie aufbaut und daraus hervorgeht.

Auch wenn die Grundannahmen des wissenschaftlichen Weltbildes nie bewusst formuliert und überprüft werden, sind sie ständig präsent. Man begegnet ihnen, sobald man Behauptungen aufstellt, die zu diesen Grundannahmen im Widerspruch stehen. Dann wird man als "unwissenschaftlich" verunglimpft. Folgende Aussagen stehen zu den Grundannahmen der Wissenschaft im Widerspruch und werden deshalb als unwissenschaftlich abgewertet:

  • Die inner-psychische Wahrnehmung liefert eine Vielzahl von über die Sinneswahrnehmung hinausgehenden Informationen. Sie ist der Zugang zu einem wichtigen Teil der Realität, der vom wissenschaftlichen Weltbild nicht abgebildet wird. Dazu gehört insbesondere auch der nicht-rationale Ursprung des menschlichen Verhaltens.
  • Der Verstand unterdrückt wesentliche Teile der Psyche. Die vom Verstand unterdrückten Teile der Psyche beherbergen eine Form von Erkenntnis, die über wissenschaftliche Erkenntnis weit hinausgeht, weil sie viele der Probleme lösen kann, welche der Verstand alleine niemals lösen wird.
  • Das Leben basiert auf einer nicht-materiellen Form von Energie - dem Bewusstsein. Bewusstsein bringt das Verhalten der Lebewesen hervor und lenkt dabei auch den nicht-gesetzmäßigen Verhaltensanteil der Materie und die Veränderung von Gesetzmäßigkeiten.
  • In dem Moment, wo man versteht, was man selbst ist (Wer bin ich?) und zu sehen beginnt, wie man selbst die Realität auf eine bisher unerkannte und unbewusste Weise formt, wird klar, dass das gesamte Universum auf genau diese gleiche Weise entstanden sein muss. (Und dann muss "dunkle Materie" plötzlich gar nicht mehr unbedingt Materie sein.)

Der tatsächlich unbestechliche wissenschaftliche Beweis der Naturgesetze bildet den Ursprung der heutigen Wissenschaft, indem die Annahme getroffen wurde, dass alles im Universum auf diese Weise beweisbar sei. Aber während sich die Wissenschaft als Erkenntnisprinzip auf immer größere Bereiche der Realität ausdehnte, mussten sich die Beweisverfahren zwangsläufig ändern - schon allein deshalb, weil nicht jeder Zusammenhang durch eine mathematische Formel dargestellt werden kann. Und so gibt es heute unter dem Oberbegriff "Wissenschaft" völlig unterschiedliche Verhaltensmuster, die als wissenschaftlicher Beweis angesehen werden:

  1. Naturgesetze: Die (nahezu) vollkommen exakte Beschreibung des elementaren Verhaltens der Materie lässt sich beweisen, indem das Verhalten der Materie mit Hilfe mathematischer Formeln vorausberechnet und dann durch Messen auf Übereinstimmung mit der Realität geprüft wird.

  2. Statistik-Wissenschaft: Die Gesetzmäßigkeiten super-komplexer Systeme wie des menschlichen Körpers oder des Ökosystems der Erde haben einen signifikanten nicht-gesetzmäßigen (scheinbar zufälligen) Verhaltensanteil. Deshalb lassen sie sich nicht mit exakten Formeln beschreiben. Stattdessen kommt ein anderes mathematisches Verfahren zum Einsatz: die Statistik. Die Statistik beschreibt die Wahrscheinlichkeiten, mit welcher die von der Wissenschaft erkannten Bedingungen zu einem bestimmten Ergebnis führen - weil sie eben nicht immer zum gleichen Ergebnis führen.

    Die Exaktheit der Statistik täuscht allerdings darüber hinweg, dass ein ganz wesentlicher Teil der eigentlich benötigten Information fehlt. Nehmen wir einmal an, die Statistik-Wissenschaft trifft die Aussage, dass unter bestimmten Bedingungen 6 von 10 Menschen von einer bestimmten Konsequenz betroffen sind, dann ist die eigentlich interessante Information, WELCHE 6 Menschen es sind bzw. warum es DIESE 6 sind und die 4 anderen nicht. Diese Information liefert die Statistik-Wissenschaft aber nicht. Die Statistik-Wissenschaft geht davon aus, dass die Wahrscheinlichkeit für alle Menschen gleich ist, weil sie die fehlenden Informationen nicht als solche sieht, sondern als "Zufall". Tatsächlich aber werden die innerpsychischen Bedingungen für die Entstehung der Konsequenz nicht gesehen.

    Ein weiterer Fehler der Statistik-Wissenschaft ist, dass sie aus stochastischen Korrelationen Ursache-Wirkung-Beziehungen schlussfolgert. Wenn zwei Ereignisse mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit gleichzeitig auftreten, dann behauptet die Statistik-Wissenschat einfach, dass das eine die Ursache des anderen sei. Eine solche Schlussfolgerung ist aber im logischen Sinne nicht zulässig, denn es könnte sich genauso gut um zwei Wirkungen einer bisher unerkannten Ursache handeln. Beispiel: Wenn festgestellt wird, dass Menschen, die an Multipler Sklerose erkranken, häufig einen Vitamin-D-Mangel haben, wird geschlussfolgert, dass der Vitamin-D-Mangel eine Ursache für die Entstehung von Multipler Sklerose sein könnte. Es könnte aber auch sein, dass sowohl der Vitamin-D-Mangel als auch die Multiple Sklerose die Folge einer bisher unerkannten Ursache sind.

  3. Erklärende Theorien wie die Evolutionstheorie und die Urknalltheorie sollen erklären, wie das Universum und das Leben aus ausschließlich lebloser Materie und ihren Naturgesetzen entstehen konnten. Dabei wird die Annahme, dass das Universum auf ausschließlich lebloser Materie und ihren Naturgesetzen basiert, aber eben nicht als eine willkürliche Annahme gesehen, die man auch anders treffen könnte, sondern als absolut unumstößliche unbezweifelbare Realität, als sei überhaupt nur diese eine Wahrheit möglich. Dieses starke Gefühl, dass die Realität absolut nur so sein kann, kommt daher, dass der Verstand sonst mit seiner rationalen Erkenntnismethode am Ende wäre und sich das einzugestehen, dazu ist er nicht in der Lage, weil es ihn mit Gefühlen von Ohnmacht und Machtlosigkeit konfrontieren würde. Also muss es aus rationaler Sicht unbedingt so sein.

    Erklärende Theorien haben keinen praktischen Nutzen, außer das Erklärungsbedürfnis des rationalen Verstandes zu befriedigen und seine Illusionen zu untermauern.

    Erklärende Theorien sind nicht im klassischen Sinne bewiesen und das wäre auch gar nicht möglich. Deshalb hat die Wissenschaft eine Ersatzmethode geschaffen, die ihr das Gefühl eines faktischen Beweises vermittelt. Sie basiert darauf, dass Experten ihre Theorien gegenseitig bestätigen (oder ablehnen). Der Beweis besteht darin, dass möglichst viele als Experten angesehene Wissenschaftler eine Theorie überzeugend finden. "Tausende Wissenschaftler können sich nicht irren." Doch! Tausende Experten irren sich dann, wenn sie alle von den gleichen falschen Grundannahmen ausgehen, weil der rationale Verstand mit aller Gewalt an seinen Illusionen festhält, um sich nicht eingestehen zu müssen, dass Rationalität zwar ein nützliches Werkzeug, aber nicht das einzige universale Erkenntnisprinzip ist.

    Das grundlegende Problem erklärender Theorien ist die unbewusste Vermischung von tatsächlicher Beobachtung und verzerrender Interpretation.

    Der französische Botaniker Jean-Babtiste de Lamarck veröffentlichte bereits vor Charles Darwin die Theorie, dass die Evolution dem Verhalten folgt. Die Giraffe hat einen langen Hals, weil sie versucht, hoch hängende Blätter zu erreichen. Die Wissenschaft wies diese Theorie zurück, ohne dass sie beweisen könnte, dass die Theorie falsch ist. Diese Theorie ist vollständig mit Darwins Beobachtungen vereinbar. Man hätte sie gleichberechtigt neben Darwins Theorie anerkennen müssen. Die Theorie wurde zurückgewiesen, weil sie in einen Widerspruch mit den unbewussten (und falschen) Grundannahmen des wissenschaftlichen Weltbildes führt.

    Dabei hätte Lamarcks Evolutionstheorie einen wirklichen Nutzen für den Menschen gehabt: Wenn die Evolution dem Verhalten folgt, dann hat der Mensch die Kontrolle über seine Evolution. Die Frage wäre dann nur noch, wie das genau funktioniert. Darwins Evolutionstheorie hingegen macht den Menschen zur Geisel genetischer Zufallsereignisse. Sie nimmt dem Menschen die Kontrolle über seine Evolution. Sie hat deshalb keinen Nutzen. Das fällt nicht auf, weil auch hier wieder eine Illusion im Spiel ist: Man nimmt an, dass der Mensch in der Zukunft die Rolle des Zufalls übernimmt und seine Gene bei Bedarf einfach "repariert". Das wird aber niemals funktionieren, wenn die Entwicklung der Gene eigentlich einem anderen Einfluss folgt, der bisher nicht erkannt wurde.

    Eine ähnliche Illusion treibt auch die Urknalltheorie an: Man nimmt an, dass die "dunkle Materie" irgendwann gefunden wird. Die Bezeichnung nimmt vorweg, dass der Einfluss, den man sieht, auf Materie zurückgeht, die man noch nicht sieht. Wenn aber der Mensch und alle anderen Lebewesen von etwas angetrieben werden, das man zwar in seinem Inneren wahrnehmen kann, aber nicht über die Sinne, warum dann nicht auch der Kosmos?

Eigentlich hat nur die Beweismethode der Naturgesetze das Image des absolut unbestechlichen Wahrheitskriteriums verdient. Die anderen Beweisverfahren wurden unter dem Deckmantel des Oberbegriffs "Wissenschaft" in das Image der unbestechlichen Wahrheitsinstanz mit hineingeschmuggelt. Das positive Image des klassischen wissenschaftlichen Beweises wird benutzt, um vieles andere auch damit zu legitimieren, das diese Legitimation eigentlich nicht verdient hat.

Die Autorität der Wissenschaft wird von den unbestreitbaren Erfolgen auf Bereiche übertragen, in denen die Grundbedingungen für den Erfolg nicht mehr gegeben sind.

Die absolute Wahrheit der Wissenschaft ist eine Illusion, die aus der mathematischen Exaktheit der Naturgesetze hervorgeht. Eigentlich ist Rationalität in all ihren Komponenten geradezu prädestiniert für Verzerrungen und Irreführung:

  • Notwendige Unterscheidungen werden nicht getroffen.
  • Zusammenhänge werden nicht hergestellt oder es werden falsche Zusammenhänge hergestellt.
  • Begriffe werden irreführend benannt.
  • Grundbegriffe unserer Existenz, die permanent verwendet werden, sind nicht klar definiert (z.B. Leben, Naturgesetz, Energie).
  • Teile des Modells, die auf Widersprüche führen, werden gemieden oder ins Unterbewusstsein verschoben.
  • Unterbewusste Teile des Weltbildes verzerren die Wahrnehmung und das Denken.
  • Es werden permanent unzulässige Schlussfolgerungen gezogen: Ja, es gibt zufällige Mutationen durch Umwelteinflüsse wie Radioaktivität, aber das bedeutet noch lange nicht, dass die zufälligen Mutationen auch für die Evolution verantwortlich sind.

Je mehr man sich ihrer Relativität und Manipulierbarkeit bewusst wird, umso besser kann man Rationalität auf eine Weise nutzen, die nicht irreführend ist. Im Grunde spielt es gar keine so große Rolle, ob ein rationales Konstrukt "wahr" ist. Viel wichtiger ist, ob es einem hilft, seine Absichten zu verwirklichen und Probleme zu lösen. Der Verstand ist ein Werkzeug: Entweder funktioniert es praktisch oder eben nicht.

Ein Zusammenhang kann als wahr angenommen werden, solange darauf basierende Interaktionen mit der Realität erfolgreich sind - wenn es also in der Praxis funktioniert.

Viele zunächst wahr erscheinende Zusammenhänge funktionieren eine Zeit lang und irgendwann funktionieren sie aber nicht mehr. Das liegt daran, dass die Bedingungen nicht vollständig erfasst wurden. Die verborgenen Bedingungen waren anfangs (unbemerkt) erfüllt und später waren sie es (ebenfalls unbemerkt) nicht mehr. In diesem Sinne wäre es angesichts eskalierender existenzieller Krisen an der Zeit einzugestehen, dass die Wissenschaft doch nicht alle Probleme lösen kann und neue Lösungsansätze gesucht werden müssen.

Man kann sich vorstellen, wie die Entwicklung des Verstandes mal ganz einfach und klein begann mit einem ganz einfachen und kleinen Modell der Realität. Die ersten rationalen Modelle waren noch sehr weit von der Realität in all ihrer Größe und Komplexität entfernt. Je weiter sich der Verstand entwickelt, umso größere und komplexere Modelle kann er aufbauen und verarbeiten. Das bedeutet, es lassen sich differenziertere Unterscheidungen treffen und mehr Zusammenhänge können hergestellt werden. Natürlich ist klar, dass die Wissenschaft noch bei weitem nicht alles weiß. Aber es ist nicht klar, dass sich auch die Erkenntnismethode selbst weiterentwickeln muss! Dieses Kapitel sollte vor allem ein Verständnis dafür schaffen, dass das Gefühl von Überlegenheit und Bescheid wissen, mit dem die Wissenschaft ihr Weltbild verteidigt, sehr trügerisch ist. Der Verstand ist in seiner gegenwärtigen Form unfähig, zwischen Illusion und echter Erkenntnis zu unterscheiden. Deshalb wachsen die Krisen. Und sie werden immer weiter wachsen. Sie werden so lange wachsen, bis das daraus erwachsende Leid die Arroganz und Ignoranz des Verstandes aufbricht und ein Umdenken beginnt.

Die Wissenschaft begründet ihren strengen Formalismus auch damit, dass immer mehr Verschwörungstheorien entstehen, denen mit strenger Wissenschaftlichkeit begegnet werden muss. Tatsächlich aber ist der immer größere Wildwuchs von Verschwörungstheorien ein Symptom dafür, dass die Wissenschaft den Menschen dringend benötigte Antworten nicht gibt.

nächstes Kapitel: Leben